Jürgen Handke: Wir haben überhaupt keine Scheitern-Kultur, und wenn jemand scheitert, ist er sozusagen gebrandmarkt. Und ich bin mit dem Inverted Classroom etwa um 2006/07 krachend gescheitert. Wenn der Kollege Meier an der Uni Frankfurt sagt: „Ich nehme das Video vom Kollegen Müller der Uni Stuttgart“, wenn er dazu bereit ist, dann klappt das ganz schnell. Aber dazu ist man nicht bereit in Deutschland. Der Neidfaktor, diese Eitelkeiten sind zurzeit zu groß, und sie haben uns so weit nach unten gebracht in der Leiter der Digitalisierung. Jetzt haben wir quasi eine Antwort auf den Digitalpakt gefunden. Kauft keine Tablets, das ist Blödsinn, da ist auch wieder nur ein Klicken und Machen, sondern geht in die Makerspaces und entwickelt Roboter und versteht die Prinzipien der digitalen Welt. Und das sage ich auch den Kollegen: Ihr müsst doch mal was Neues machen, dafür sind wir doch da, wir können doch nicht stehen bleiben und sagen: So, das war es, ich mache nichts mehr.
Michael Sonnabend: Willkommen zum Durchfechter-Podcast, dies ist Episode 25. Schön, dass ihr wieder dabei seid. Die Stimme vom Anfang gehört Jürgen Handke, Hochschullehrer an der Universität Marburg. Dort habe ich ihn vor einigen Wochen besucht, wir saßen in seinem Büro, das vollgestopft mit Technik ist, überall Mikros, Kameras, Green Screen und ein kleiner humanoider Roboter stand da auch noch herum. Denn Jürgen Handke ist nicht nur irgendein Professor, sondern wohl der profilierteste Hochschullehrer für Digitales Lehren, den wir in Deutschland haben. Seit 40 Jahren tüftelt der Autodidakt daran herum, Wissen in digitalen Medien aufzubereiten, zunächst auf CD-Rom, heute vor allem als Videos und mit Hilfe von humanoiden Robotern. Die Entwicklung, die er genommen hat, war selten geradlinig und von einigen Rückschlägen gekennzeichnet. Manches, so erzählt er, ist sogar richtig in die Hose gegangen. Davon entmutigen lassen hat er sich nie. Denn mit steigender Beharrlichkeit kam irgendwann auch die Anerkennung, zum Beispiel in Form von Preisen und Auszeichnungen. Der Stifterverband zum Beispiel hat ihm seinen renommierten Ars legendi-Preis verliehen. Heute sind seine digitalen Konzepte wie zum Beispiel der Inverted Classroom vorbildlich und werden vielerorts adaptiert. Nur seine eigene Hochschule, so hat er es empfunden, hat ihn dafür nie wirklich geschätzt. Dazu war er wohl immer ein zu unabhängiger Kopf. Wir lernen: Wer konsequent seinen eigenen Weg geht, geht ihn manchmal auch ganz allein. Dinge durchzufechten ist sehr oft auch sehr schmerzhaft. Da braucht es gesundes Selbstbewusstsein, intrinsische Motivation und ab und zu auch ein bisschen Glück. Die Geschichte von Jürgen Handke hat mich persönlich ein wenig ernüchtert. Sie wirft kein gutes Bild auf die Innovationsfähigkeit unserer Hochschulen, auch wenn man sie – ich weiß – sicher nicht so pauschal verallgemeinern kann. Und dennoch, überall in der Gesellschaft beschwören wir Offenheit, Neugier, Mut im Umgang mit dem Unbekannten. Jürgen Handke verkörpert all das, und mir scheint, dass ihm das nicht immer gut bekommen ist. Doch hört ihn nun selbst. Mein Name ist Michael Sonnabend, und ich wünsche euch nun frische Erkenntnisse mit Jürgen Handke.
Jürgen Handke: Also ich habe mein Leben lang Musik gemacht, in der Schule die üblichen Dinge: Flöte, Blockflöte, Altflöte. Und dann später, weil mein Vater das auch wollte, dass ich Musik mache, habe ich mir ein Instrument aussuchen dürfen, was er dann auch bezahlt hat, und da habe ich mir merkwürdigerweise das Cello ausgewählt. Ich habe also eine klassische Cello-Ausbildung. Und da sah ich im Fernsehen die englische Band „Jethro Tull“ mit Ian Anderson, dem auf einem Bein stehenden Flötisten, der wohl der unbeliebteste potenzielle Schwiegersohn Großbritanniens war zu der Zeit. Und da dachte ich: Das muss ich auch machen. Habe mir eine Querflöte gekauft, habe meinem Vater gesagt: Ich spiele kein Cello mehr. Er fiel aus allen Wolken. Und ich habe mir dann selber Flöte beigebracht, später dann Saxophon, akustische Gitarre, alles selbst beigebracht und bin in eine Band eingestiegen. Und wir haben dann in den 70er Jahren Rockmusik gemacht, so im Stil von „Genesis“ und „Jethro Tull“. Und unter anderem war auch ein Gitarrist dabei, der heute bei den „Scorpions“ spielt, nämlich Matthias Jabs. Also da sieht man schon, das war ein ganz gutes Niveau. Und dann war, irgendwann musste ich mich dann entscheiden: Studiere ich oder bleibe ich dem Rockmusik-Business treu? Ich hatte auch lange Haare damals. Und da hat mich auch ein Dozent vor die Wahl gestellt an der Universität Hannover, er hat gesagt: Entweder die Haare ab und Sie bleiben hier an der Uni, oder Haare dran und Sie machen nur noch Musik. Und er hat mich dann nach England geschickt und ich habe dort studiert, Phonetik, und habe die Band aufgegeben. Und in den 90er Jahren dann, als ich längst die Professur hier in Marburg hatte, kamen diese Soundkarten an PCs in Mode. Und da habe ich dann die Musik der Band „Jethro Tull“ synthetisiert und habe die Instrumente von Ian Anderson, meinem ursprünglichen Idol, live dazu gespielt, Flöte, Saxophon, Gitarre und auch das Cello sogar wieder mal gebracht und bin durch Deutschland getourt. Und da ist eine CD entstanden damals auch, „Jürgen Handke plays Jethro Tull“, die ich sogar viele hundert Mal verkaufen konnte. Und ich habe dadurch den Zugang bekommen zu Sound und Video, und das spielt ja heute in meiner Lehre eine große Rolle. Ich bin von dort dann nach Wuppertal gegangen, habe da meine Habilitation gemacht. Und in Wuppertal hatte ich eine ganz tolle Chefin, und sie hat mir erlaubt, einen Computer anzuschaffen. Das muss man nun überlegen, das war 1982, da gab es noch keine Personal Computer. Die ersten Computer, die man so hatte, das waren Computer mit einem Diskettenlaufwerk, so ein Bildschirm, wo man gelbe oder grüne Schrift darauf sah, 640 x 480 Auflösung und kaum Speicher. Kostenpunkt: 15.000 DM damals. Den hat sie angeschafft und mir auf den Schreibtisch gestellt, so nach dem Motto: Ich gebe dir alle Freiheiten, damit zu tun, was du tun möchtest. Das war natürlich großartig. Und dann habe ich in der Tat … Diese Computer musste man ja programmieren, man konnte ja nicht einfach Word oder irgendwie eine Oberfläche hatte man ja gar nicht, die musste man in Basic programmieren. Dann habe ich diesen Computer mit in den Seminarraum gebracht, habe ihn dann verkabelt mit so einem Fernsehturm. Man hatte damals ja so Gestelle, da war ein Videorekorder drauf, ein Fernseher, die rollte man über den Flur und verband sie dann mit anderen Geräten. Wenn man das heute sehen will, braucht man ja nur in eine Schule zu gehen, da sieht man ja solche Dinge noch, in den deutschen Technikmuseen, die deutschen Schulen. Ich habe das dann aufgebaut, halbe Stunde Aufbauzeit, fünfmal getestet. Und dann im Unterricht konnte ich dann ein Grammatikmodell dynamisch vorführen. Und da haben die Studenten damals gesagt: Mensch, können Sie das noch mal machen und vielleicht noch mal, können wir es noch mal sehen? Und da habe ich gemerkt: Es gibt Möglichkeiten, digital Dinge zu machen, die man mit Kreide und Buch nicht machen kann. Das heißt, ich habe das erste Mal entdeckt, da gibt es Mehrwerte. Ich konnte ein erstes Projekt einwerben und habe mir davon Soundkarten besorgt für die Computer. Privat habe ich darauf meine Musik gemacht und hier in den Büros haben wir erprobt: Was können wir tun? Und so entstand dann die Idee, CD-ROMs zu produzieren, Lehr-CDs, also nicht mit „ee“, sondern mit „eh“, CDs zum Lehren. Und 1996 kam dann die erste CD auf den Markt, die Interactive Introduction to Linguistics, eine CD-Rom. Und so begann das. Sie wurde damals sehr beachtet auch, war auch sogar ein kommerzieller Erfolg. Und ich hatte dann die Idee: Ich könnte doch jetzt eigentlich jedem Studenten so eine CD in die Hand drücken und könnte mir selber ersparen, mich vor die Studenten zu stellen und Semester für Semester immer wieder das Gleiche zu sagen. Habe ich auch gemacht. Wir haben dann in einen Computerraum, vor die dicken PCs mit den Riesenbildschirmen damals, 30 Studenten gesetzt, jeder hatte eine CD, ich habe dann gesagt: So, bitte einlegen und nun gehen Sie bitte das erste Kapitel, ich sage jetzt mal, „Phonetics“ durch. So, dann saßen sie davor, ich stellte mich dahinter. Die Presse war da und schrieb: „Computer ersetzt Professoren“. Es ging ein Aufschrei durch die Universität, durch die Stadt, durch meine Kollegen und ich war gebrandmarkt. Dabei hatte ich doch nur mal was versucht, und dieser Versuch ging auch in die Hose. Er hat überhaupt nicht geklappt, denn die Studenten wussten gar nicht: Ja, was sollen sie denn jetzt machen eigentlich? Sollen sie das abschreiben? Sollen sie das – abfilmen ging nicht, ein Handy hatte man noch nicht. Sollen sie sich das merken? Oder was sollen sie eigentlich tun? Die erste Lehre, die ich da gelernt habe, die erste wirklich harte Lehre, die ich ziehen musste, war, dass man weiteres Übungsmaterial braucht und klare Anweisungen und Strukturen in der digitalen Welt, was man wann, wie, wo machen muss. Aber bevor ich diese Erkenntnis gewinnen konnte, hatte man mich schon in die Ecke gestellt und gesagt: Das ist ja ein Wahnsinn, der ersetzt ja die Professoren. Und dieses Label, was auch in der Presse war, das hing mir jahrelang an. Aber es ist noch etwas eingetreten: Ich war ab sofort kein richtiger Linguist mehr. In der linguistischen Fachwelt war ich jemand, der jetzt Bilder produziert und Töne und so etwas, der aber nicht mehr so richtig forscht, der nicht mehr Artikel schreibt, mit Fußnoten, wissenschaftlichen Prinzipien, sondern „der macht ja nur Bilder und Töne“ hörte ich überall. Und nach meiner letzten großen linguistischen Publikation, „The Structure of the Lexicon“, 1995, war ich nicht mehr in der linguistischen Forschung tätig, sondern ich habe mich auf diese Produktion linguistischer Lehrmaterialien konzentriert. Die Folge war, dass meine Karriere beendet war. Ich konnte mich in der Linguistik nicht mehr bewerben, ich konnte mich in der Informatik nicht bewerben, ich habe kein abgeschlossenes Informatikstudium, E-Learning oder so etwas gab es nirgendwo, wo man sich hätte bewerben können, also war ich praktisch festgenagelt, und deswegen sitze ich seitdem hier in Marburg. Das ist bitter, aber für viele könnte es heute eine Lehre sein, dass man eben die Menschen, die sich mit Lehre befassen an den Hochschulen, nicht so benachteiligen sollte, wie ich es eigentlich erfahren habe. Die Universität Marburg hat uns jahrelang, ich sage es mal, geduldet. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, warum das so ist. Also zum einen habe ich viele Dinge einfach – und da sind wir beim Titel dieser Reihe – durchgefochten, die habe ich wirklich einfach nur gemacht. Zum Beispiel die Einführung eines Studienganges, eines Magister-Nebenfaches Linguistik Engineering. Das war ein Fach, das habe ich im Jahr 2001 in direkter Absprache mit dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, indem ich die Ministerin angesprochen habe, durchgesetzt, und das war ein sehr erfolgreiches Nebenfach, an der Unileitung vorbei, so bitter es ist. Nur die Unileitung, die haben geblockt, und das habe ich dann auch gehört. Und das passt natürlich einer Unileitung nicht, wenn da jemand vorprescht und direkt Kontakte in die Politik sucht. Habe ich aber gemacht. Später dann den Master Linguistics and Web Technology von 2009 bis 2017, der heute noch mit Abstand erfolgreichste Masterstudiengang, zu dem die Akkreditierungsagentur Acquin schrieb: Das ist ein Juwel, auf das die Philipps-Universität Marburg stolz sein müsste, oder stolz sein muss sogar. Sie war aber nie stolz darauf, sie haben ihn eingestellt, als klar wurde, dass ich irgendwann pensioniert werde und niemand an diesen Themen interessiert ist. Also die Abwehrhaltung vieler Kolleginnen und Kollegen kommt schlicht daher, dass sie einfach mit diesem Neuen nicht klarkommen. Das Neue, was ich begonnen habe mit den CDs, hat ja die Grundidee, etwas nicht mehr vor Menschen vermitteln zu müssen, was digital gut darstellbar ist – zunächst auf CDs mit einem gewissen, sage ich mal, visuellen auditiven Mehrwert, mittlerweile ja im Internet frei verfügbar, immer rund um die Uhr verfügbar und sofort auch abrufbar. Wenn einer heute das Wort „Gravitation“ nur sagt, hat ja ein Student in Sekundenschnelle die Information, die er braucht dazu. Und das ist für viele einfach nicht hinnehmbar. Der klassische Wissensvermittler, und das sind nahezu 100 % der Lehrenden an deutschen Hochschulen, steht vor einem Publikum als Gralshüter des Wissens und vermittelt Wissensmengen, die aber im Internet da sind. Das heißt jetzt nicht, dass sie gleich so aufbereitet sind, dass man sie verwenden kann. So, und jetzt erzähle ich denen: Ihr müsst das nicht mehr vermitteln. Das ist doch völlig klar, dass für sie eine Welt zusammenbricht. Ich sage ihnen etwas, was ein 500 Jahre altes Prinzip über den Haufen wirft. Und da sagen sie: Ach nein, ehe ich das mache, dann bewahre ich das lieber. Und begeben sich in die bräsige deutsche Bewahrungskultur hinein und sagen: Nein, das wollen wir nicht. Die Grundidee der digitalen Lehre ist ja nicht, dass man die klassische Lehre nun digital anreichert durch Hörsaaltechnologien und Powerpoint und so etwas und PDF-Dokumente hinterher bereitstellt, sondern die digitale Lehre, wie man sie heute versteht, geht davon aus, dass die grundlegenden Inhalte eines Faches nicht mehr im Hörsaal, sondern digital vermittelt werden, über klug zusammengestellte digitale Inhaltspäckchen, die sich die Studenten im Selbststudium aneignen. Anschließend gehen sie in eine Präsenzphase, in der ausgehend von diesen vermittelten Inhalten nun diese Inhalte vertieft werden, Kompetenzen trainiert werden, Daten analysiert werden usw. Und das führt dazu, dass der Akademiker, der bisher vor seinem Publikum stand, nun nicht mehr die Inhalte vermittelt, das Wissen, sondern die Kompetenzen trainiert und begleitet, was viel schwieriger ist. Ich habe seit, ich glaube, seit 1984 an verschiedenen Universitäten immer den Kurs „History of English“ unterrichten müssen, denn irgendwie ist er an mir hängen geblieben. Und so um 2000 herum habe ich gesagt: Jetzt habe ich den 16 Jahre lang schon gemacht, aber ich habe eigentlich nie gewusst: Haben die Studenten was kapiert oder nicht? Ich hatte immer so 100 Teilnehmer, egal an welcher Uni das war, 100 Teilnehmer, ich war in Köln damit, in Düsseldorf, in Wuppertal Lehrbeauftragter, dann in Marburg, immer so 100 Teilnehmer, das ist so die anglistische Zahl. 90 Minuten geredet, drei Mann haben was gefragt und zum Schluss noch ein vierter, kommt ja immer einer noch mal hinterher, und dann habe ich mich gefragt: Haben die das denn kapiert, was du da gesagt hast? Denn ich habe wie mit einer Wand geredet. So, und heute ist das, was ich damals gesagt habe, vollständig digitalisiert, ich gehe in eine Präsenzphase und ich rede mit jedem. Ich gehe durch die Reihen, ich gehe um die Tische herum, berate die Studenten, sie stellen Fragen, manchmal wollen sie mich auch nicht sehen, sagen: Nein, bleiben Sie mal weg. Aber ich kann auf jeden individuell eingehen. Und das ist, denke ich, der entscheidende Vorteil für beide dann, ein ganz anderes Lehrformat als das, was man klassisch kennt, aber man muss top digitale Materialien haben. Einfach nur zu sagen: „Da habt ihr ein Video auf YouTube“, das reicht nicht, es muss schon mehr sein. Wir haben überhaupt keine Scheitern-Kultur, und wenn jemand scheitert, ist er sozusagen gebrandmarkt. Und ich bin mit dem Inverted Classroom etwa um 2006/07 krachend gescheitert. Das lief so: Wir hatten auf unserer Plattform die Inhalte zu einem Kurs „Language typology“ komplett digital. Ich hatte damals den Studenten gesagt: „So, bis nächsten Dienstag bereitet ihr bitte die erste Unit vor, am Dienstag danach die zweite“, usw. – und kam dann in die Präsenzphase. Und in der Präsenzphase hatten wir keine Idee, was wir machen sollten, weil die Inhalte ja digital waren. Also habe ich mich hingesetzt und Mitarbeiter von mir auch und sind die digitalen Inhalte noch mal durchgegangen, haben sie quasi vor deren Augen mit einem Beamer durchgeklickt. Heute sieht man das ein, dass das total blöd war. Die Studenten haben damals selbstverständlicherweise gesagt: Wieso komme ich denn dann, wenn er das Gleiche noch mal durchklickt, was ich ja gemacht habe? Wir haben uns evaluieren lassen, es war eine Katastrophe, also Durchschnitt: 5-. Und Natürlich sind alle auf uns eingestürzt: Die spinnen ja, was die da machen. Aber was sollte ich tun? Ich hatte ja keine Erfahrung, gab ja auch keine, weltweit keine Erfahrungswerte. Also hatten wir ein Jahr später, als der Kurs wieder war, das gleiche Prinzip und haben in den Präsenzphasen neue Inhalte eingeführt, haben tolle Powerpoint-Präsentationen entwickelt, haben Vorträge gehalten, haben Leute eingeladen, um Vorträge zu halten, haben auch Studenten nominiert, die Vorträge halten. Die Evaluation war genauso katastrophal, weil die Studenten jetzt gesagt haben: Bei dem Handke müssen wir viel mehr machen als bei allen anderen. Und so hat sich wirklich über die Jahre eine Balance gebildet, die, ich würde sagen, bis 2013/14 gedauert hat, bis wir dann gemerkt haben: Ah ja, so kriegen wir es sauber hin. Und deswegen, was ich immer wieder sage, es ist das Verändern einer jahrhundertelangen Lernkultur, die hier stattfindet, und diese kann nicht auf Anhieb klappen. Wir hatten uns um etwa 2010 herum überlegt – mit „wir“ meine ich immer meine Mitarbeiter und ich, wobei ich korrekterweise sagen muss, in dem Fall waren es Mitarbeiterinnen, ich hatte ja mehrere – wir haben dann überlegt: Wir müssen eigentlich ein Buch schreiben, wieder zu dem Thema. Wir hatten da vier Jahre lang wenig publiziert, weil wir uns so auf diesen Inverted Classroom, ohne zu wissen, wie er heißt, gestürzt haben und immer wieder probiert haben, die digitalen Materialien verändert haben. Wir haben dann gesagt: Jetzt müssen wir ein Buch schreiben. Das Buch ist sehr gut angekommen, „E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre“, wo wir diese Modelle auch beschrieben haben und auch bei einem prominenten Verlag, der Rudolf Oldenbourg Verlag war das damals, der in dem Bereich sehr viel zählt, ist auch gut verkauft worden. Und plötzlich kamen Einladungen, hier und da Einladungen, wo wir das Konzept vorstellen konnten, und dann – das Buch kam 2012 heraus – auch ein Vorschlag zum Hessischen Landeslehrpreis. Das war damals nicht der höchste deutsche Lehrpreis, aber zumindest der am höchsten dotierte Lehrpreis. Und da haben wir immerhin 85.000 Euro gewonnen. Und dieser Preis, den wir gewonnen haben 2013, hat Tür und Tor geöffnet. Das ging dann durch die Presse und das hat allen nicht gepasst. Aber ich war von dem Moment an so ein bisschen gesicherter in meiner Position, noch nicht richtig, aber dann ging das los. Und dann habe ich 2014 das Buch geschrieben „Patient Hochschullehre“, was die Kollegen wieder … Meine Angriffslust wurde größer, muss ich dazu sagen, und ich habe viele Dinge identifiziert, die für viele Kollegen ganz, ganz bitter sind, für die ich aber von allen Seiten Bestätigung bekommen habe, dass das richtig ist. Und dieses Buch kam 2014 dann heraus und ging auch durch die Medien. Und 2015 gab es den Ars legendi-Preis, und damit war natürlich alles … Dann konnte ich kein Angriffspunkt mehr sein für die Kollegen. Und nach 2015, Ars legendi-Preis, habe ich ja auch jährlich jetzt 50 Einladungen an deutsche Hochschulen, wo ich diese Konzepte vortrage. Ein riesiger Dorn im Auge meiner Kollegen, denn sie müssen die Dienstreisen unterschreiben, die Honorare genehmigen usw., aber jetzt geht für sie nichts mehr. 2011 haben wir die Inverted Classroom-Konferenz gegründet, haben eine Community aufgebaut. Und einer der Sponsoren, die sich sofort bereiterklärt haben, war eine Videoproduktionsfirma, nämlich TechSmith, heute der Lieferant für Videoproduktionssoftware an deutschen Hochschulen. Und sie hatten zwei Amerikaner hier, und an einen werde ich mich immer wieder erinnern, Dan Spencer heißt er. Er hat einen Videoworkshop gemacht, und da war ich mit drin. Ich war zwar Organisator der Tagung, aber habe mich selbstverständlich in Workshops hineingesetzt, wo ich noch keine Ahnung hatte von den Inhalten. Und Dan Spencer hat das so toll gemacht, danach war mir klar: Die Produktion von Videos ist ja überhaupt keine Kunst. Und so habe ich direkt eine Woche später ein erstes Video erstellt, habe mich einfach vor eine Kamera gestellt und was zum Thema – ich weiß gar nicht, ein Thema aus der Phonetik war es wieder mal – einfach dargestellt und direkt auf YouTube hochgeladen. Und nach einer Woche hatte ich 200 Klicks und ungefähr 30 Likes, was ganz viel ist. Man hat sonst maximal vielleicht, wenn ein Video richtig gut ist, 10 % Likes, und das waren ja viel mehr. Da habe ich gesagt, das muss ich jetzt professionalisieren, und habe dann losgelegt. Und so sind die Videos entstanden, zunächst einfach am Schreibtisch mit der Webcam und später dann in einem umgebauten Büro, in dem wir jetzt gerade sitzen, mit Green-Screen-Technologie, Teleprompter, remote-controlled Microphones usw., also mit der gesamten Technik, sodass sie auch immer professioneller wurden. Und sie sind heute dann integriert in diese Lerneinheiten im Virtual Linguistics Campus. Und es sind mittlerweile 600 Videos, die in dem Kanal sind, darüber hinaus sind weitere Kanäle entstanden, einer Deutsch als Fremdsprache für unsere großen Flüchtlingskurse, die entstanden sind ab 2016, dann Digitalisierung der Lehre ist ein Kanal, sie haben auch zusammen 3.000 Abonnenten. Und jetzt arbeiten wir an einem neuen Kanal, Educational Robotics. Und da sahen wir im Internet: Da gibt es Roboter jetzt plötzlich. Da haben wir gesagt: Dann versuchen wir das mal. Haben die Preisgelder genommen und haben uns für 20.000 Euro einen ersten Roboter gekauft. Wir wussten nicht, was wir damit machen sollen, wir haben einfach nur mal geguckt. Dann kam hier die Kiste an und da dachten wir, jetzt würde der Roboter uns begrüßen und sagen: Schön, ihr seid im 21. Jahrhundert angekommen, ich finde das toll. Wir stellten fest: Er kann gar nichts. Er konnte gerade mal „Hello“ sagen, aber das war es. Also mussten wir erst mal überlegen – erstens: Wie bedienen wir den Roboter? Zweitens: Was kann man mit dem überhaupt machen? Und dann habe ich eines Abends im Dezember 2016 bei einer Tagung des Hochschulforums Digitalisierung, das mich gut vernetzt hat in Deutschland, also dafür bin ich dem HFD immer dankbar, mit den Verantwortlichen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zusammengesessen und habe ihnen das mal vorgestellt, dass wir eigentlich ein Projekt bräuchten dafür. Und so haben wir, an allen Förderlinien vorbei, das Projekt HEART durchgesetzt, ohne dass irgendeiner da seine Finger darin hatte, auch die Uni nicht. Die waren auch wieder ganz erstaunt: Wieder mal hat der es geschafft, alleine Leute zu überzeugen: Hier, da müsst ihr mal was tun in dem Bereich. Und so wurde das Projekt HEART, „Humanoid Emotional Assistant Robots in Teaching“, aus dem Boden gestampft im Januar 2017. Und dieses Projekt hatte in der ersten Phase die Aufgabe, erst mal herauszufinden: Wo setzen Menschen weltweit humanoide Roboter überhaupt ein und was ist überhaupt ein humanoider Roboter, was kann der? Kann man heute alles auf der project-heart.de-Webseite nachlesen. Und dann haben wir uns überlegt: Wie können wir den überhaupt gebrauchen beim Lehren und Lernen? Und wir haben gesagt: Na ja, wenn die Präsenzphasen in unserem Inverted Classroom so einen hohen Betreuungsaufwand haben, könnte man doch auch dem Roboter einen Teil von Betreuungsaufgaben übergeben. Genau das haben wir versucht. Wir haben dann Applikationen entwickelt, wo der Roboter teilweise den Hörsaal kontrolliert, Hörsaal kann ich eigentlich nicht mehr sagen, da wird nichts mehr gehört, aber den Seminarraum, und zum Beispiel Quizfragen kontrolliert und stellt, Examensfragen aus unseren Datenbanken abruft und die Studenten so ein bisschen vorbereitet. Ja, und in einem weiteren Schritt haben wir dann das gemacht, was ich auch „Intelligent Tutoring“ nannte oder was man heute „Learning Analytics“ nennt. Man übergibt dem Roboter Daten der Studenten von der Plattform und berät die Studenten in ihrem Lernprozess, und das ist die Robotersprechstunde. Und das war dann 2018. Und 2018 hatten wir eben diese drei Anwendungen, diese Fragestellungen, die Examensvorbereitung und die Robotersprechstunde. Das ging ja auch durch die Medien. Dann haben wir gesagt: Das ist uns aber nicht genug, das sind zwar punktuelle Anwendungen … Und wir haben uns dann, als das Projekt HEART in Deutschland leider nicht mehr weiterfinanziert wurde, haben wir uns internationale Partner gesucht, und die Chinesen sind natürlich sofort Feuer und Flamme. Wir haben viele Einladungen nach China bekommen. Und jetzt entwickeln wir mit Leuten aus China zusammen die Classroom Application Packages, wo mehrere Anwendungen gebündelt nacheinander ablaufen, der Roboter 20, 30 Minuten den kompletten Seminarraum kontrolliert und ich als Lernbegleiter mich um die Studenten kümmern kann, sie beraten kann bei den Aufgaben, die der Roboter stellt. Also wir sind ja jüngst in dem Index of Digital Readiness im Bereich Lifelong Learning, wo das Lernen von der Geburt bis zur Bahre quasi betrachtet wird, sind wir unter den 27 europäischen Unionsstaaten ohne Großbritannien schon 27. geworden, also Letzter. Das liegt daran, dass wir zum Teil in Deutschland die Infrastruktur schlicht und einfach nicht haben. Man redet über Funklöcher. Kein Mensch in Holland, die übrigens Zweiter geworden sind, redet über Funklöcher. Da brauchen Sie nur über die Grenze fahren von Nijmegen nach Kleve, da ist das Internet schon weg. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt ist: Wir haben in Deutschland die europaweit negativste Haltung gegenüber Digitalisierung und die größte Skepsis. Da spielt auch der, ich meine aus meiner Sicht, überstiegene oder übertriebene Datenschutz eine Rolle. Der dritte Punkt ist: Unsere Lehrkräfte in Schulen und Hochschulen sind nicht ausgebildet dazu, die digitalen Inhalte an ihr Zielpublikum zu bringen. Die Hochschulen haben zum Beispiel komplett versagt in den letzten 20 Jahren, was die Lehrerbildung angeht. Es fehlen schlicht und einfach Module in den Lehramtsstudiengängen, die digitale Themen zur Grundlage haben. Ob das jetzt Lernsoftware ist, ob das der Umgang mit humanoiden Robotern ist, allgemein algorithmisches Denken, das fehlt komplett. Wenn man bereit ist zu teilen, wenn der Kollege Meier an der Uni Frankfurt sagt: „Ich nehme das Video vom Kollegen Müller der Uni Stuttgart“, wenn er dazu bereit ist, dann klappt das ganz schnell, aber dazu ist man nicht bereit in Deutschland. Der Neidfaktor, diese Eitelkeiten sind zurzeit zu groß, und sie haben uns so weit nach unten gebracht.